Stuttgart 21 ist ein planerisch gescheitertes Projekt, das gegen größte Bedenken und Widerstände weiter gebaut wird. Vieles, was Projektkritiker immer kritisiert und befürchtet hatten, ist inzwischen eingetreten: Die Kosten explodieren, Steigerungen werden nur salamitaktisch eingeräumt. Immer wieder werden die Analysen der Projektgegner ignoriert, bis man eines besseren belehrt wird, wie zuletzt und erneut vom Bundesrechnungshof, der die Kostenprognose von 10 Mrd. € bestätigte.
Ein ähnlicher Umgang mit den Fertigstellungsterminen: Ein ums andere Mal erweisen sie sich als zweckoptimistisch. Zentrale Fragen zu Brand- und Hochwasserschutz sind unbeantwortet. Die steigende Zahl von Planänderungen und fehlende Planfeststellungen in wichtigen Bauabschnitten lassen das Ausmaß der Planungsdefizite ahnen. Selbst engagierte Projektbefürworter der ersten Jahre räumen ein, dass sie – nach allem was bisher passiert ist und bekannt wurde – Stuttgart 21 „nicht noch einmal beginnen würden“ 1. Dennoch wird unbeirrt an dem Projekt festgehalten und gebaut, als gebe es kein Zurück.
Was Nutznießer und Unterstützer des Projekts vor einer Ausstiegsdebatte schützt, ist der scheinbar unerschütterliche Glaube an dessen inzwischen erreichte Unumkehrbarkeit. Zuviel sei schon verbaut, zu viel Geld sei schon in das Projekt hineingesteckt, das dann ja umsonst ausgegeben worden wäre – eine Sichtweise, die weit über das Lager der Befürworter hinaus von vielen geteilt wird. Nolens volens müsse jetzt weiter gemacht werden.
Dies jedoch ist eine gezielt herbeigeführte oder „herbeigebaute“ Entmutigung, die erklärt, warum ein mehrheitlich für gescheitert gehaltenes Projekt nicht mehr zu dem mehrheitlichen Wunsch nach seiner Beendigung führt.
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Ist die Kosten-Nutzen-Bilanz des Projekts negativ, können die bisher getätigten Arbeiten kein vernünftiges Argument für ein «weiter so» sein
… will den Mythos der Unumkehrbarkeit entschlüsseln und Denkblockaden auflösen. Sie zeigt unter Rückgriff auf die betriebswirtschaftliche Theorie der „Sunk Cost“, dass es ökonomisch irrational ist, fehlinvestiertem Geld hinterherzulaufen und es durch Nachschieben von weiterem Geld retten zu wollen (S. 4).
Das gilt umso mehr, als die Ausstiegskosten noch weit unter den anzunehmenden Gesamtkosten des Projekts liegen, ein Ausstieg also für alle Beteiligten einen finanziellen Vorteil bedeuten würde (S. 5).
Im Folgenden wird argumentiert, dass ein Baufortschritt, der nicht infolge einer fundierten Planung erreicht wurde, sondern vor allem um Widerstände gegen ein fragwürdiges Vorhaben zum Verstummen zu bringen, nicht als Argument für die Fortsetzung des Projekts dienen kann.
Dass Großprojekte nicht unumkehrbar sind, ist Thema ab S. 6. Erinnert wird an etliche Vorhaben ähnlicher Dimension, die in einem weit fortgeschritteneren Stadium beendet wurden, Fatalismus also fehl am Platz ist. Auch Stuttgart 21, das noch weit von einer Fertigstellung entfernt ist, ist umkehrbar, wenn es gute Gründe für einen Ausstieg gibt. Auch vertragliche Bindungen sind kein Hinderungsgrund, den beschrittenen Weg aufzugeben, wie ab S. 9 erläutert wird. Auch erzwingt der bereits viel weiter fortgeschrittene Bau und die wahrscheinliche Fertigstellung der umstrittenen Neubaustrecke Wendlingen – Ulm keineswegs die Fertigstellung von Stuttgart 21 (S. 10 / Vorschläge zur Anbindung der Neubaustrecke an den Kopfbahnhof finden sich in Kapitel 5).
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Der Ausstieg als intelligenter Umstieg: Ein erneuerter Kopfbahnhof eröffnet interessante Zukunftsperspektiven
Hinderungsgründe, die erklären können, warum das Projekt trotz allem weiter verfolgt wird, liegen vielmehr in wirtschaftlichen Einzel- bzw. Brancheninteressen und auf der politischen Ebene in Problemen der Gesichtswahrung im Falle eines Projektabbruchs (S. 11).
Wenn ein Ausstieg also möglich ist, stünden Stadt und Land dann nicht vor einem Scherbenhaufen, vor einem nicht mehr kontrollierbaren Chaos?
Anliegen der getönten Passagen (Kapitel 3 bis 5) dieser Broschüre ist zu zeigen, dass ein Projektabbruch kein Zurücksetzen auf Null sein muss, sondern als Umstieg in eine neue, bessere Entwicklung organisiert werden kann.
Natürlich können von einer kritischen Bürgerbewegung, auch wenn sie noch so fachkundig ist, keine baureif ausgearbeiteten Alternativplanungen erwartet werden. Der Anspruch ist, mit Gegenentwürfen und kreativen Ideen plausibel zu machen, dass Stadt und Region bei einem Ausstieg nicht vor einem „Schwarzen Loch“ stehen würden, ihnen vielmehr tausend bessere Wege offen stehen. Es zeigt sich, dass viele der Zerstörungen und getätigten Baumaßnahmen konstruktiv gewendet werden können und sich so ein weites Feld von Gestaltungsmöglichkeiten öffnet: Der Ausstieg als intelligenter Umstieg!
Der Bonatzbau kann in seinen Proportionen und seiner architektonischen Anlage wiedererstehen ohne zwanghaft die historische Vorlage zu kopieren (Kap. 3). Die Neugestaltung der Seitenflügel kann neue Zugänge und Verbindungen ins Umfeld schaffen, die Grube in Höhe des Kopfbahnhofs kann – so der Vorschlag der Verfasser – für einen zentralen Fernbusbahnhof, eine großzügige Radstation u.a. genutzt werden.
Zwar können 300 Jahre alte Baumriesen nicht wiedererstehen, aber die Landschaft des mittleren Schlossgarten kann den BürgerInnen zurück gegeben werden, punktuell kann die Baugrube für bürgernahe Nutzungen verwendet werden, wie z.B. ein im Park eingetieftes Amphitheater analog zum früheren Landespavillon.
Ein besonderer Vorteil des Umstiegs im Vergleich zum Weiterbau ist ausgerechnet das für Stuttgart 21 immer ins Feld geführte städtebauliche Argument. Die Erschließung neuer Flächen sollte eine Antwort auf Knappheiten und Mietpreisexplosion geben, so die Bewerbung von Stuttgart 21. Bei näherer Betrachtung bietet jedoch ein Umstiegskonzept hier die wesentlich bessere Lösung.
Eine Schlüsselrolle fällt dabei dem sogenannten C-Areal am Nordbahnhof zu, das bei einem Weiterbau von S21 auf lange Jahre mit Baulogistik blockiert wäre. Bei einem Umstieg kann das Areal sofort freigeräumt werden und unmittelbar mit einem Planungs- und Beteiligungsprozess für ein visionäres, urbanes Quartier begonnen werden: Sofort und nicht erst in 10 bis 15 Jahren kann mit einer moderaten Wohnbebauung für den jetzt drängenden Wohnungsmangel begonnen und mischfunktional mit Spielräumen für (Sub-)Kultur, Freizeit, Bildung, kommunalem Leben, viel Grün, verkehrsberuhigt, vielleicht sogar autofrei gestaltet werden. Vorschläge hierfür finden sich in Kap. 4 „Die neue Prag“ – so soll das Quartier heißen.
© Manfred Grohe
Französisches Viertel in Tübingen als Beispiel für eine ökologisch-soziale Wohnbebauung
Kapitel 5 befasst sich mit dem Anschluss der Neubaustrecke, deren Fertigstellung angenommen wird, über das Neckartal an den Kopfbahnhof (S. 29) sowie mit innerstädtischen, regionalen und überregionalen schienenverkehrlichen Optionen bei einem Projektumstieg.
Die Auswahl der dargestellten Alternativen stellt keine Festlegung auf die jeweilige Lösung dar, sie soll aber mit diesen wohl durchdachten und realisierbaren Beispielen demonstrieren, dass und wie ein Umstieg und damit ein Ausweg aus dem verfahrenen Projekt möglich ist.
Anders als Boris Palmer meint, ist Stuttgart 21 kein Fehler, den man nun begehen müsse. Genauso wenig, wie man auf einem Holzweg weiter gehen muss. In diesem Sinne will die Broschüre zur Inspiration und zu weiteren Alternativen anregen auf anderen Planungsfeldern von S21 und auch zu den hier vorgestellten.
1 Bahnchef Grube, FAZ vom 5.3.2013