Die Problemlagen, auf die das Update des Konzepts UMSTIEG21 eine Antwort anbietet, sind äußerst dynamisch: Das gilt für Stuttgart21 selbst, wo Widersprüche und Planungsdefizite immer sichtbarer werden, je näher das Projekt seiner angestrebten Fertigstellung entgegenkommt. Dass dies trotz allen öffentlichen Beteuerungen auch von den Verantwortlichen selbst so gesehen wird, zeigen mehrfache Äußerungen, das Projekt wäre mit dem Wissen von heute nie gebaut worden, oder: die Gegner*innen hätten eigentlich Recht behalten. Insbesondere die im grün-schwarzen Koalitionsvertrag vom Mai 2021 verabredeten sogenannten Ergänzungsprojekte belegen die Einsicht, dass die Kapazität des geplanten Bahnhofs nicht ausreicht, und damit der Deutschlandtakt in Stuttgart nicht funktionieren würde, und dass die S-Bahn-Trasse auf den Fildern den zusätzlichen Fernverkehr nicht aufnehmen kann.
Eine Zuspitzung zeichnet sich auch auf dem Problemfeld der innerstädtischen Verkehrsbelastung ab: Der ungebremste Boom von Internethandel, Produktdiversifizierung und Lieferservices droht die Innenstädte zu ersticken - wenn nicht massiv gegengesteuert wird. Sollen Gesundheit und Lebensqualität in den Städten wieder mehr Geltung erfahren, müssen konsumfixierte Lebensstile hinterfragt werden und muss der öffentliche Raum wieder an menschlichen Bedürfnissen und Maßstäben orientiert und verteilt werden. Dafür müssen belastende innerstädtische Güterverkehre weichen, am besten dorthin, wo dies möglich und sinnvoll ist: unter die Erde.
Spätestens seit dem richtungsweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 zur Klimaverantwortung für künftige Generationen muss alles staatliche Tun und Lassen auf seine Klimaverträglichkeit überprüft werden. Das gilt besonders für die beiden hier thematisierten Problemfelder Stuttgart21 und innerstädtischer Güterverkehr. Ein Weiter-so mit zusätzlichen 47 km Tunnelbau - bei einem ohnehin hoch klimabelastenden Projekt - kann weder den neuen Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts noch den Zielen der Landesregierung und der Bundespolitik gerecht werden. Gleiches gilt für eine weitergehende Duldung der innerstädtischen Verkehrssituation, insbesondere im Blick auf die Güterverkehre.
Das Konzept UMSTIEG21 orientiert sich in seiner Neufassung von 2021 strikt an dem Gedanken des Umnutzens des für S21 Gebauten, bzw. der kreativen Neubestimmung des für dieses Projekt Zerstörten. Mit diesem Maßstab liegt das Konzept ganz auf der Linie der BVerfG-Entscheidung und würde auf dem Prüfstand der Klimaverträglichkeit bestehen.
Dieser Linie folgend haben politisch-taktische Kalküle keine Rolle bei der Entwicklung des Konzepts gespielt. Dennoch eröffnet der Vorschlag neue Perspektiven noch in anderer Hinsicht:
Dies ist unübersehbar und viel diskutiert, Selbst- und Außenwahrnehmung schwanken zwischen Provinzialität und Selbstüberschätzung. Fester Bestandteil des Stuttgart-Images ist neben Anderem Stuttgart21. Gestartet als hypermodernes Zukunftsprojekt macht es bundesweit fast nur Negativschlagzeilen und erntet viel Spott – millionenschwere PR-Kampagnen und politisches Lobbying konnten daran nichts ändern. Die Strahlkraft einer bautechnisch anspruchsvollen Kelchstütze verblasst im Kontext eines Projekts, das mit Planungsmängeln, Kostenexplosionen, Verzögerungen, Brandschutzproblemen und einer desaströsen Klimabilanz von sich reden macht.
2027, hundert Jahre nach der legendären Bauaustellung des Werkbunds in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, findet erneut eine Internationale Bauausstellung in Stuttgart statt. Die IBA 1927 markierte einen Epochenwechsel im Wohnungsbau. Mit weltbekannten Bauhaus-Architekten wie Ludwig Mies van der Rohe, Le Corbusier, Walter Gropius oder Hans Scharoun stand Stuttgart international im Rampenlicht – ein positiver Imagetransfer.
Weißenhof Siedlung IBA 1927
Vor diesem Hintergrund kommt eine Bauausstellung 2027 in Stuttgart an Stuttgart21, als dem für Stadt, Region und Land absolut dominanten Städtebaugeschehen nicht vorbei. Genau dies dürfte anfänglich auch das treibende Motiv der Idee gewesen sein, die Jubiläums-IBA wieder in Stuttgart stattfinden zu lassen und das dann fertige Stuttgart21 mit seiner Wohnbebauung im Rosensteinquartier als die Vision von Zukunft schlechthin vor aller Welt präsentieren zu können, Imagetransfer von der revolutionierenden IBA 1927 inklusive.
Es ist bekanntlich anders gekommen. Die Fertigstellungstermine bewegen sich immer mehr Richtung 2030er, wenn nicht gar 2040er Jahre. Mit den geplanten Teilfertigstellungen lässt sich nicht renommieren. Schlimmer noch: Zukunft wird heute - fast dreißig Jahre nach der Erfindung von S21 und vor dem Hintergrund von Verkehrsinfarkt und immer bedrohlicherem Klimawandel - ganz anders buchstabiert.
Als Stadt und Region den Plattformprozess für die neue IBA dann im Jahre 2014 starteten, musste alledem Rechnung getragen werden. Um Stuttgart21 sollte damals ein großer Bogen gemacht werden. Nun geht es um viele über die Region verteilte kleinere, durchaus zukunftsfähige Projekte vom Mehrgenerationenhaus in Salach über ein Postareal in Böblingen bishin z. B. zu einem grünen Quartier in Backnang-West 1.
Das Stuttgarter Imageproblem lässt sich weder durch kosmetische Maßnahmen, wie sie von Stuttgarts neuem OB Frank Nopper unternommen werden, noch durch Ignorieren des Elefanten im Wohnzimmer lösen, wie es der von Stadt und Region getragenen IBA 2027 vorzuschweben scheint. Imageprobleme lassen sich nicht an der Oberfläche oder mit Ausweichstrategien lösen, sondern durch ehrlichen Umgang mit dem Kern des Problems.
Die IBA 2027 hätte die große Chance, sich ihrem historischen Vorbild würdig zu erweisen, wenn sie sich der Frage öffnen würde, wie es mit Stuttgart21 weitergehen soll unter den heute ganz anderen Prämissen. Konversion ist das große Stichwort, das die Bereitschaft signalisiert, die alten Wege bei Technologien, Infrastrukturen oder im Städtebau zu verlassen, wenn sie neuen Anforderungen nicht mehr genügen. Das gilt für die Energiewende, den Abschied vom Verbrennungsmotor - das muss auch für Stuttgart21 gelten. Das Projekt braucht eine Denkpause, eine klimapolitische Inventur, Zeit für neues Denken, das Zulassen von Alternativen wie UMSTIEG21, aber auch anderen Optionen.
IBA 2027 – ohne Stuttgart21?
Gerade bei der Entwicklung von Konversionsmöglichkeiten können sich Innovationskraft und Erfindergeist beweisen, wie sie der Region zugeschrieben werden. Das gilt für neue Bautechniken, die sich von der Fixierung auf Beton lösen, das gilt für die Umnutzung anstelle des Abrisses von Bausubstanz, das gilt für Mobilitätskonzepte, die die Fixierung auf das Auto hinter sich lassen und die Integration klimaverträglicher Verkehrsmittel fördern – im Personen-, aber auch im Güterverkehr, wie z.B. in dem hier vorgeschlagenen Konzept der unterirdischen City-Logistik. Ein weites Feld für Autokonzerne, die sich zu Mobilitätsanbietern („Daimler Mobility“) weiterentwickeln wollen.
Gefragt sind Brücken in einer weiter gespaltenen und frustrierten Bürgerschaft. Auch wenn UMSTIEG21 dem Gedanken der Konversion folgend einen Kurswechsel bei Stuttgart21 fördern will, so ist dem Ansatz immanent, dass dies nicht im Gegensatz Neu gegen Alt, sondern in einem Übergang von Alt zu Neu erfolgt. Transformationen gelingen am Ende nicht in den Kategorien von Sieg und Niederlage, das lehrt schon die Geschichte der Deutschen Einheit. Die Realität, ob erstrebt oder bekämpft, ist Ausgangspunkt der Veränderung. An rationalen, nicht dogmatischen Maßstäben wird gemessen, was von der entstandenen Realität erhalten, einer neuen Bestimmung zugeführt werden, anderweitig Nutzen stiften kann - oder auch weichen muss.
Ein so zu verstehendes Umstiegskonzept kann daher, gewissermaßen als Kollateralnutzen, ein Beitrag zur Überwindung von Frust und Spaltung der Bürgerschaft im jahrzehntelang andauernden Konflikt um Stuttgart21 sein.
1 https://www.iba27.de/erleben/projekte/iba27-netz/?show=square Keines der 14 IBA-Projekte hat S21-Bezug, unter „weitere Vorhaben“ wird lediglich auf die Planungen der Stadt im Bereich Wagenhallen und Rosenstein verlinkt