Selbstverständnis der Bürgerbewegung gegen Stuttgart21 war es von Beginn an, das Projekt aufgrund seiner Defizite und Widersprüche abzulehnen und zugleich konstruktive Auswege und innovative Alternativen vorzustellen. Das war schon der Leitgedanke des 2008 noch vor Baubeginn, seinerzeit noch maßgeblich von den Grünen mitgeprägten Konzepts Kopfbahnhof21 1.
Wer realistische, also umsetzbare und vermittelbare Alternativen zu einem im Bau befindlichen Projekt anbieten will, kann nicht tabula rasa, ein Zurück auf Null fordern. Das wäre je nach Bauentwicklung möglicherweise mit noch höheren Kosten sowie immensem Ressourcenverbrauch verbunden und damit klimapolitisch eine schlechte Lösung. Stattdessen hat das Aktionsbündnis gegen Stuttgart21, der Philosophie des Umnutzens folgend, 2016 in dem darauf aufbauenden Update 2018, das von einem Expertenteam entwickelte Konzept UMSTIEG21 2 vorgestellt. Mit dem Abriss der beiden Flügel des Bonatzbaus und wenigen Baumaßnahmen hielten sich Zerstörungen und Bauentwicklung zunächst noch in Grenzen, wenn man von den brutalen Baumfällungen im Schlossgarten 2010 absieht.
Allerdings war schon 2016 die Fertigstellung der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm (NBS) absehbar. Anders als Stuttgart21, obwohl ebenso eine Fehlentscheidung, gibt es hier einen point of no return. Da dieser inzwischen erreicht wurde, beinhaltete das Umstiegskonzept schon damals Vorschläge der Anbindung der NBS an den Kopfbahnhof.
Titelblatt der K-21-Broschüre (5. Auflage)
Trotz immer deutlicher zu Tage tretender Widersprüche und Risiken des Projekts ist Stuttgart21 selbst, besonders im Bereich Bahnhofsgrube und Tunnelbauwerke, unübersehbar vorangetrieben worden. Dies führte zu einer Anpassung und Weiterentwicklung des Umstiegskonzepts, sozusagen UMSTIEG21/2021, in dessen Mittelpunkt ein komplexer konstruktiver Vorschlag zur Umnutzung von Baugrube und Tunneln steht, sie nämlich für ein unterirdisches System vollautomatisierter Güterlogistik zu verwenden. Um die Machbarkeit dieses völlig neuen Ansatzes zu prüfen, hat das Aktionsbündnis eine Plausibilitätsstudie bei den Logistikexperten Prof. Dr. Philipp Precht und Prof. Dr. Mathias Wilde von der Europäischen Fachhochschule Coburg in Auftrag gegeben. Die Studie bestätigt die Machbarkeit einer Güterlogistik in der S21-Infrastruktur (siehe Kapitel 2.2). Auf dieser Basis wurde die Güterlogistik-Idee in die konkrete Situation implementiert und das Umstiegskonzept im Bereich Schlossgarten und Tunnelanlagen angepasst und weiterentwickelt (Kapitel 2.5 ff).
Die weiteren Module des Umstiegskonzepts behalten im Wesentlichen ihre Gültigkeit und werden ab Kapitel 3 kurz skizziert.
Anspruch auch dieser Weiterentwicklung des Umstiegskonzepts ist nicht, eine fertige umsetzbare Dies-oder-nichts-Lösung vorzustellen, sondern die Machbarkeit von Alternativen an einem konkreten plausiblen Vorschlag zu belegen. Da die geschaffenen Fakten, also die bauliche Realisierung von Baugrube und bisherigen Tunnelanlagen, Grundlage von UMSTIEG21/2021 sind, wird das Konzept eine Alternative auch bei weiterer Bauentwicklung bleiben.
Wenn es um die Demonstration der Machbarkeit von Alternativen geht, dann beansprucht der hier ausgearbeitete Vorschlag nicht, der Weisheit letzter Schluss zu sein. Er ist nur der aus Sicht der Umstiegsgruppe sinnvollste Beitrag aus einem weiten Feld vieler denkbarer kreativer Lösungen und ergänzender Optionen, von denen viele auch zur Diskussion standen. Zu zeigen war vor allem, dass niemand, keine Politik, keine Stadt oder Gesellschaft gezwungen ist, ein Projekt weiter zu verfolgen, dessen Sinnhaftigkeit infrage steht und das angesichts seiner klimapolitischen Hypotheken immer mehr zum Anachronismus wird.
Titelblatt der ersten Umstieg21-Broschüre
Auch die Umstiegsgruppe selbst musste sich anpassen und weiterentwickeln. Eine große Lücke hatte im April 2020 der Tod des Architekten und Bonatz-Enkels Peter Dübbers gerisssen. Noch in der Anfangsphase der jetzigen Arbeit hatte Peter Dübbers sich engagiert mit diversen Konstruktionszeichnungen an den Arbeiten beteiligt. Inzwischen ist Theo Sauerborn, Student der Stadt- und Raumplanung in Erfurt, dem Umstiegsteam zugewachsen und hat zusammen mit zwei Kommilitonen die Arbeiten mit technischen Zeichnungen und Entwürfen unterstützt, einem der Felder, die zuvor von Peter Dübbers abgedeckt wurden. Mit ingenieurwissenschaftlicher Expertise hat außerdem Dr.-Ing Hans-Jörg Jäkel von der Gruppe Ingenieure22 das Umstiegsteam verstärkt. Weiter dabei: Dr. Norbert Bongartz, Architekturhistoriker und Dr. Werner Sauerborn, Sprecher des Aktionsbündnisses der eine und dessen Geschäftsführer der andere.
Die Verkehrspolitik in Stuttgart und Region hat es mit zwei gravierenden Problemen zu tun – und dies wird in den nächsten Jahren noch verschärft. Das eine, Stuttgart21, wird in letzter Zeit vornehmlich beschwiegen. Obwohl Probleme und Grenzen des Projekts immer deutlicher zu Tage treten, herrscht bei den Verantwortlichen eine fatalistische Ergebenheit, einhergehend mit Interesse- und Kompetenzverlust. Versöhnungsformeln, die an der Oberfläche bleiben, verhindern eine problembewusste Befassung.
Das andere Problem ist flagrant, allgegenwärtig und überparteilich erkannt: die Belastung besonders der Innenstädte mit Autoverkehr, wobei in letzter Zeit die Güterverkehre infolge des wachsenden Online-Handels immer mehr in den Fokus drängen. Pkw- und immer mehr auch Lkw-Verkehr sind Treiber im bisher ungebremsten Wachstum des CO2-Anteils im Verkehrssektor und sie belasten die Lebensqualität in den Innenstädten.
Beide Probleme sind nicht nur Stuttgarter Probleme: Stuttgart21 ist ein Beispiel für den inzwischen weitgehend als falsch begriffenen Weg in der Verkehrspolitik und es bremst, Stichwort Integraler Taktfahrplan, die unisono geforderte Verkehrswende weit über Stuttgart hinaus. Und die Belastung der Innenstädte mit (Güter-)Verkehr ist erst recht kein auf Stuttgart begrenztes Problem. Allerorten gibt es Überlegungen der Begrenzung und oft auch der Verlagerung unvermeidlicher Verkehre unter die Erde, wie hier vorgeschlagen.
Im Mittelpunkt des Umstiegskonzepts stehen konstruktive Vorschläge und nicht die Auflistung all der vielfach diskutierten und dokumentierten Schwächen des Projekts. Diese seien hier nur an drei besonders wunden Punkten aufgegriffen, um zu zeigen, wie notwendig und dringend es ist, dass sich verantwortliche Politik mit Alternativen und Auswegen beschäftigt:
Dass die Leistungsfähigkeit des geplanten Tiefbahnhofs, anders als beim bisherigen Kopfbahnhof, unzureichend ist und den Anforderungen des Integrierten Taktfahrplans, dem Leitziel der bahnpolitischen Verkehrswende, nicht genügt, wird inzwischen von einem Großteil der Grünen, allen voran von Verkehrsminister Winfried Herrmann, bestätigt. Nicht anders lassen sich die aufwändigen, inzwischen zum Gegenstand des Koalitionsvertrags vom 5. Mai 2021 gewordenen sogenannten Ergänzungsprojekte verstehen, die die wesentlichen und zentralen Geburtsfehler von Stuttgart 21 beheben, zumindest abmildern sollen. Der Vorschlag eines ergänzenden unterirdischen Kopfbahnhofs, der von der Realisierung von S21 und damit dem Abbau der leistungsfähigen oberirdischen Schieneninfrastruktur ausgeht, erreicht auch mit dann 12 oder 14 Gleisen kaum die Kapazität des bisherigen Kopfbahnhofs, erst recht nicht bei Berücksichtigung dessen Erweiterungspotentials. Er würde auch einen Baustopp und viel Planänderungen erfordern, würde weitere Milliarden kosten, viele Jahre Bauverzögerung mit sich bringen und wäre wieder sehr betonintensiv und damit klimabelastend.
In einer ähnlichen Sackgasse steckt die gesamte Planung der Fildertrasse inklusive Flughafenanschluss und Gäubahnanbindung an den geplanten Tiefbahnhof. Wenn der jüngst verstorbene „Vater“ von Stuttgart21, Prof. Heimerl, sich von den inzwischen über 20-jährigen Planungen dieser Trasse distanziert und Steffen Bilger, CDU-MdB aus Ludwigsburg und Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, öffentlichkeitswirksam einen 12 km langen Doppeltunnel zur Umgehung des problematischen Mischverkehrs auf der Fildertrasse vorschlägt, dann ist das das Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Planung und eröffnet die Diskussion über Alternativen.
Am 22. Februar 2021 hatte das Aktionsbündnis eine empiriebasierte Prognose der Kosten und Klimabelastungen der vier hauptsächlichen sogenannten Ergänzungsprojekte vorgestellt. Danach würden 47 km weitere Tunnel gebaut, die zusätzliche 5,5 Mrd. € Kosten und einen Emissionseintrag von 730 000 t zusätzlicher Treibhausgase mit sich brächten. Fraglich ist, ob nicht angesichts der coronabedingten extremen Schuldenbelastung der öffentlichen Haushalte die Bereitschaft endet, die ausufernden Kostensteigerungen weiter widerspruchslos hinzunehmen. Auch die vom wiedergewählten Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann postulierte politische Priorisierung von Klimaschutz ist nicht zu vereinbaren mit den zusätzlichen Treibhausgas-Einträgen bei Fortsetzung des Projekts, insbesondere unter Einbeziehung der „Ergänzungsprojekte“.
Als besonders folgenreich kann sich das über dem Gesamtprojekt schwebende Damoklesschwert des letztlich nicht genehmigungsfähigen Brandschutzes erweisen. Besonders der lange Fildertunnel würde im Falle eines ICE-Brands zur tödlichen Falle für Hunderte Reisende werden, weil es an Rettungsstollen und wirkungsvollen Entrauchungskonzepten fehlt und Selbstrettung angesichts vieler Hürden und zu langer Rettungswege für viele unmöglich sein würde. Ob letztlich unter diesen Bedingungen eine Betriebsgenehmigung für S21 erteilt werden kann, soll dem Willen der Projektpartner zufolge erst nach der baulichen Fertigstellung und kurz vor einer Inbetriebnahme entschieden werden – statt jetzt, bevor weitere Kosten entstehen und wertvolle Zeit verstreicht.
Allen mehr oder weniger gut gemeinten Verbesserungsvorschlägen ist gemein, dass sie die Probleme nicht wirklich lösen können, dass sie mit weiteren Milliarden aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren wären, dass sie eine Fertigstellung von S21 eher in den Vierzigerjahren erwarten lassen – und vor allem, dass sie die ohnehin schon dramatisch negative Klimabilanz dieses Projekts weiter verschlechtern würden.
Dass es keine vertragliche Bindung gibt, das Projekt trotz seiner zwischenzeitlichen Entwicklung unbedingt fortzusetzen, ist bereits im Umstiegskonzept von 2016 begründet worden. Dort wurde auch dem Argument entgegengetreten, das Projekt müsse allein wegen der erreichten Bauentwicklung und der schon entstandenen Kosten fortgesetzt werden.
Der motorisierte Individualverkehr ist weltweit zu einem Problem vor allem in Ballungsräumen und Großstädten geworden. Immer wieder belegen Umfragen, dass sich die Bürger*innen durch schlechte Luftqualität bzw. Lärmemissionen belastet und durch den hohen Platzbedarf für rollenden und ruhenden Verkehr in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt fühlen.
So fühlten sich rund 75 % der Befragten einer Studie durch Straßenverkehrslärm zumindest etwas gestört oder belästigt – verständlich angesichts möglicher Langzeitfolgen wie chronischer Lärmbelastung, Gehörschäden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck u.a.
Der motorisierte Individualverkehr gehört seit Jahren zu den fast ungebremsten Treibern der globalen Klimaerhitzung. „Ein Fünftel des in Deutschland ausgestoßenen CO2 geht auf das Konto des Verkehrs. 96 Prozent davon stammen direkt aus den Auspuffen von Pkw und Lkw. Anders als in anderen Bereichen sind die CO2-Emissionen des Verkehrs seit 1990 nicht gesunken“, schreibt der VCD. Zwar senken technische Verbesserungen, erzwungen durch gesetzliche Vorgaben die Verbräuche und Emissionen pro Fahrzeug, was aber durch ein starkes Mengenwachstum überkompensiert wird.
Während sich öffentliche Aufmerksamkeit und Problemlösungsdruck vor allem auf den Pkw-Verkehr konzentrieren, wird erst in jüngster Zeit auch der Straßengüterverkehr in den Blick genommen. Immerhin verbraucht der Güterverkehr „33 % der gesamten verkehrsbedingten Primärenergie. Zwischen 1995 und 2018 stieg der Verbrauch um rund 42 %.“ Absolut dominant ist dabei mit einem Anteil von 85% (2018) der Straßengüterverkehr. Die Anteile Binnenschifffahrt und Schienengüterverkehr gehen derweil ständig zurück. Wie insgesamt im Verkehrssektor sinken zwar beispielsweise die CO2-Emmissionen pro Lkw seit Jahren deutlich, „weil aber mehr Lkw unterwegs sind, sind die absoluten Kohlendioxid-Emissionen im Straßengüterverkehr heute um 22 Prozent höher als 1995.“ Absolvierten 1995 Lkw in Deutschland noch 279,7 Mrd. Tonnenkilometer, so waren es 2018 bereits 506,9 Mrd. Tonnenkilometer, also 81 % mehr – mit weiter steigender Tendenz.
Wenn Scharen von Transportern die Fuß- und Radwege zuparken oder durch Halten in der zweiten Reihe auch den Autoverkehr behindern, empört das nicht nur andere Verkehrsteilnehmer*innen, besonders Fußgänger*innen und Radfahrer*innen, sondern es stellt auch eine Zumutung für die Disponent*innen und Fahrer*innen in der Logistikbranche dar, die ihre Lieferungen nur noch im Dauerstress, im Laufschritt und notorisch unter Inkaufnahme von Verstößen gegen Verkehrsregeln zustellen können.
Auslöser dieser Fehlentwicklungen sind langjährige, der gesellschaftlichen Kontrolle entglittene Veränderungen in der Herstellung, Verteilung und im Konsum von Gütern und Dienstleistungen.
Eine Schlüsselrolle spielt natürlich der Trend zur Verlagerung des stationären zum Internethandel. Wo bislang Menschen Geschäfte besuchten, drängen nun Lieferfahrzeuge konkurrierender Logistiker kreuz und quer durch die Cities und Wohngegenden. Hinzu kommt: „Die Welt des Handels verändert sich, unter anderem dadurch, dass Kunden immer mehr individuell angepasste Produkte wünschen“, wie Prof. Robert Schulz, Leiter des Instituts für Fördertechnik und Logistik (IFT) der Universität Stuttgart erklärt. Die Losgrößen nehmen ab, Industrie- und Handelskunden wollen teure Lagerflächen einsparen und verlagern diese via just-in-time-Lieferung auf die Logistiker, der Bestellrhythmus steigt. Das führe, so Schulz „zu einer gigantischen logistischen Herausforderung, weil Teile in immer kleineren Stückzahlen zugeliefert werden müssen“.
Welche Größenordnung diese Entwicklungen bundesweit und in Stuttgart angenommen hat, zeigt folgende Tabelle aus der in Kap. 2.2. näher vorgestellten Studie zur Plausibilität einer unterirdischen Güterlogistik bei Nutzung der S21- Infrastruktur:
Jährlich 4,4 Mio. Paletten, die von Lkw der verschiedenen Fahrzeugklassen von 3.5 bis 40 t meist viele Kilometer in die Stadt hinein, hinaus oder innerstädtisch transportiert werden, vermitteln einen Eindruck von den Größenordnungen, mit der der Güterverkehr die Stadt belastet. Hinzuzudenken sind die hier nicht berücksichtigten Stück- und Schüttguttransporte, die jeweiligen meist unbeladen zurückfahrenden LKW sowie die für Dienstleistung und Handwerk eingesetzten Lkw, meist der Fahrzeugklasse bis 3,5 t.
Quelle: Plausibilitätsstudie Precht/Wilde, S 15ff, s.u., eigene Berechnungen, Erläuterungen s.u. 13
Eine Vorstellung, in welchem Maße der innerstädtische Lkw-Verkehr klimabelastende Treibhausgase (THG) emittiert, vermitteln die Verbrauchswerte von Lkw nach Fahrzeugklassen und die daraus abgeleiteten Treibhausgasemissionen:
Faktoren zur Abschätzung der THG-Emissionen: angenommener spezifischer Kraftstoffverbrauch (Diesel) und THG Emissionen auf 100km je Lkw-Gewichtsklasse – Plausibilitätsstudie Precht/Wilde, S. 26
Wieviel Tonnen Treibhausgase in absoluten Zahlen der Lkw-Verkehr in Stuttgart verursacht, wird in der Plausibilitätsstudie (s. Kap. 2.2.), allerdings nur für den im vorgeschlagenen Konzept verlagerbaren Güterverkehr, ermittelt.
Faktoren zur Abschätzung der THG-Emissionen: angenommener spezi scher Kraftstoffverbrauch (Diesel) und THG Emissionen auf 100km je Lkw-Gewichtsklasse – Plausibilitätsstudie Precht/Wilde, S. 26 Erläuterungen s.u. 14
Immer mehr Bürger*innen treiben in dieser Situation vor allem die Einschränkung von Lebensqualität, Belastungen der Gesundheit sowie umweltpolitische Gesichtspunkte auf die Barrikaden. Sind in den entsprechenden Interessenkonflikten Unternehmen, Wirtschaftsverbände und ihre politischen Alliierten sozusagen natürliche Gegner, ist die Lage im Konfliktfeld innerstädtischer Güterverkehre differenzierter. Längst thematisieren einschlägige Fachverbände, die IHK und auch wirtschaftsnahe Politiker wie der FDP-Landtagsabgeordnete Jochen Hausmann die Dysfunktionalität und Ineffizienz des derzeitigen Zustands. Aufgrund der Wildwest-Situation der innerstädtischen Güterversorgung werden immer häufiger die Kundenwünsche nach Präzision und Pünktlichkeit verfehlt und zunehmend bringt die Logistikbranche die öffentliche Meinung gegen sich auf. Gesehen wird auch, dass Citylogistik öffentliche Güterversorgung ist, bei der die parallele Bedienung gleicher Verteilstrecken von konkurrierenden Unternehmen im übergeordneten Sinne unwirtschaftlich ist. Sie führt am Ende in einen ruinösen Wettbewerb, der auch einzelwirtschaftlich unsinnig ist.
So fragt sich die IHK Region Stuttgart in einer „Kurzstudie Innenstadtlogistik Stuttgart“: „ob die Ausgestaltung des öffentlichen Stadtraums in Stuttgart mit den Auswirkungen und Anforderungen moderner Logistikkonzepte kompatibel ist. Diese Frage ist aus heutiger Sicht schwierig zu beantworten, da innerstädtische Logistik hauptsächlich ein Gegenstand betrieblicher und zwischenbetrieblicher Organisation von Unternehmen und ihren Kunden ist, welche für öffentliche Planungsträger kaum nachvollziehbar ist, und die demnach auch nur bedingt in die heutige Stadtentwicklungsplanung miteinfließen kann. Dabei wird jedoch ein erhebliches Potenzial verschenkt, innerstädtische Logistikprozesse effizienter, ressourcenschonender und vor allem stadtverträglicher zu gestalten“.
Schon 2012 hatte die IHK Region Stuttgart „Maßnahmen für einen funktionierenden Wirtschaftsverkehr in der Stadt Stuttgart“ vorgeschlagen. Die Versorgung mit Waren und Dienstleistungen sowie die Entsorgung von nicht mehr benötigten Gütern sei lebenswichtig für die Stadt, stelle aber auch eine Belastung dar: Sie „verursache Lärm und Luftverschmutzung, verschärfen die Verkehrssituation und blockieren städtischen Raum. Es sind vor diesem Hintergrund Lösungen für einen Wirtschaftsverkehr als Teil des urbanen Lebens der Zukunft zu entwickeln und dabei die Bedürfnisse aller Akteure und Betroffenen zu berücksichtigen.“ In einem Update 2020 bemängelt die IHK, dass „seitens der Kommunalpolitik und der städtischen Verwaltung das Thema Wirtschaftsverkehr aber nicht die Rolle spielt, die ihm aufgrund seiner Bedeutung für die Unternehmen und Bürger in der Landeshauptstadt zusteht“.
Dass jahrelange Fehlentwicklungen von der Stadt Stuttgart inzwischen wahrgenommen werden und die Arbeit an Lösungen aufgenommen werden soll, zeigt ein Forschungsprojekt zur City-Logistik, das das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation zusammen mit der Stadt gestartet hat. Der „innerstädtischen Warentransport für Stadt, Wirtschaft und Bürgerinnen sowie Bürger soll klimafreundlich gestaltet werden. Hierzu sollen insbesondere Warenströme erkannt und digital verfolgt werden, um optimale Lösungen für die Bedarfe der Region zu entwickeln“ (ebd.).
Der Erfolg dieses Projekts wird davon abhängen, ob die von Stuttgart21 geprägte Realität einbezogen wird. Sie zu ignorieren würde bedeuten, Chancen, die sich durch einen Umstieg ergeben, auszublenden. Zum anderen würden Lösungen unter Verdrängung der S21-Realität zu zusätzlichen Belastungen für Stadt und Bürger*innen führen, die mit erneuten jahrelangen Umbaumaßnahmen in einer von Baustellen bereits jetzt überforderten Stadt entstünden.
Das hier vorgestellten Umstiegs-Update verbindet einen Ausweg aus der S21-Problematik mit der Lösung eines drängenden innerstädtischen Verkehrsproblems. Daher: "Kopfbahnhof & unterirdische Güterlogistik = UMSTIEG21 Plus!" Beides hat hohe Klimarelevanz. Der Stadt und der Region würden viele Jahre S21-Weiterbau mit hohen Klimabelastungen, insbesondere durch die im Koalitionsvertrag beschlossenen sogenannten Ergänzungsprojekte mit 47 km weiteren Tunneln erspart. Zugleich lassen sich mit der unterirdischen City-Logistik klimabelastende Treibhausgasemissionen in großem Stil vermeiden – und das ohne den zusätzlichen Bau vieler weiterer CO2-intensiver Tunnelröhren.
1 DIN-A-5-Broschüre „K21 – die Alternative zu „Stuttgart21“ – komfortabler, leistungsfähiger, sicherer“, maßgeblich verantwortet von Rudolf Röder, Peter Gierhardt, Gerd Hickmann, Renate Basse, Jürgen Merks und Gangolf Stocker, Stuttgart 2009, 1. Auflage 9/2008 – 5. Auflage 2011
2 Broschüre „Umstieg21 – Stuttgart21 umnutzen: Auswege aus der Sackgasse“, entwickelt von der Umstiegsgruppe des Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 mit Dr. Norbert Bongartz, Dipl.-Ing. Klaus Gebhard, Dipl.-Ing. Peter Dübbers, Dr. Werner Sauerborn und Edgar Bayer mit beratender Unterstützung bzw. Motivierung von Prof. Roland Ostertag und Peter Conradi.